von Hans Peter Roentgen
Bär
Brummel wachte auf, hoch oben auf seinem Wohnbaum. Er wollte
nicht aufwachen, wie alle Bären schlief er gern und viel,
jedenfalls solange sich nichts besonderes tat. Und heute tat
sich sicher nichts besonderes. Trotzdem wachte er auf. Er öffnete
versuchsweise ein Auge und klappte es schnell wieder zu. Er
hoffte, die Anstrengung werde ihn müde machen und dann
könnte er wieder einschlafen.
Er
schlief nicht ein. Ein Sonnenstrahl kitzelte ihn an der Nase.
Er drehte sich langsam auf die andere Seite. Der Wohnbaum knarrte.
"Guten
Morgen", hörte er unten rufen.
"Mmh", brummte er missmutig zurück.
Dann
stand er aber doch auf, kletterte langsam Astgabel für
Astgabel den Wohnbaum hinab und seufzte, wie er unten ankam.
"Guten
Morgen", wiederholte die Stimme freundlich.
"Morgen", sagte er gähnend und zeigte seine Zähne.
"Ob er gut wird, muss sich noch zeigen."
"Alter Miesepeter", tönte die Stimme, die Giraffe
Gine gehörte. "Ich bin seit zwei Stunden schon auf
den Beinen."
"Dein Pech", maulte Bär Brummel, "Ich hingegen,
ich hätte gerne weitergeschlafen."
"Und warum tust du's nicht?"
"Weil ich nicht mehr schlafen kann, drum. Ich möcht
wissen, warum?"
"Hast du heute nacht geträumt?" fragte Giraffe
Gine.
"Nicht, dass ich wüsste."
"Und gestern?"
"Kann mich nicht erinnern."
"Und davor die Nächte?"
"Komisch", sagte Bär Brummel, "jetzt, wo
du fragst, fällt es mir auf. Ich habe schon wochenlang
nicht mehr geträumt."
"Siehst du", sagte Giraffe Gine.
"Was soll ich sehen?"
"Dass du nicht mehr geträumt hast. Ich habe auch nicht
geträumt. Niemand hat die letzten Wochen geträumt.
Nicht der kleinste Traumfetzen. Nicht einmal Katze Katja, die
den ganzen Tag in der Sonne liegt, hat in den letzten Tagen
geträumt."
Bär
Brummel setzte sich und kratzte sich mit der Hinterpfote nachdenklich
hinter dem Ohr.
"Und?"
fragte er schließlich ratlos. "Was heißt das?"
"Das heißt, dass die Träume fehlen. Früher
haben wir immer geträumt. Zumindest manchmal. Aber jetzt:
Nichts. Als ob die Träume alle plötzlich weggeflogen
wären."
"Mein letzter Traum, der war, der war, der war.....",
ratlos schaute sich Bär Brummel um. "Komisch, jetzt
fällt er mir nicht mehr ein. Aber ich weiß, ich hatte
mal einen Traum. Komisch."
"Keiner kann sich mehr an seine Träume erinnern. Ich
nicht. Du nicht. Katze Katja nicht. Keiner."
Bär
Brummel wurde ganz aufgeregt.
"Heißt
das, morgen wache ich wieder so früh auf?" fragte
er besorgt.
"Davon können wir ausgehen."
"Und übermorgen auch?"
"Vermutlich."
"Und alle kommenden Morgen kann ich auch nicht weiterschlafen,
wenn ich es möchte?"
"Das nehme ich an."
Bär
Brummel kratzte sich wieder mit der Hinterpfote am Ohr.
"Da
müssen wir was tun gegen. Das ist ja furchtbar!"
"Du sagst es!" Giraffe Gine pflückte ein Blatt
vom Wohnbaum und zerkaute es langsam. Bär Brummel war so
aufgeregt, dass er nicht mal protestierte.
"Wir müssen die Träume wiederfinden", rief
er und erst jetzt fiel ihm auf, dass Giraffe Gine schon wieder
von seinem Wohnbaum naschte.
"Lass das", knurrte er, "ich habe dir schon oft
gesagt, dass du meinen Wohnbaum nicht fressen darfst."
"Es ist ja nur ein Blatt", meinte Giraffe Gine und
schluckte hastig.
"Es ist ein Blatt von meinem Wohnbaum", knurrte Bär
Brummel.
Giraffe
Gine wechselte zum nächsten Baum und pflückte ein
besonders zartes, junges Blatt.
"Vielleicht
hast du die Träume gefressen?" fragte Bär Brummel.
"Ich?" sagte Giraffe Gine erschrocken, "aber
dann müsste ich doch ständig träumen."
"Das stimmt", gab Bär Brummel widerwillig zu,
"schade."
"Wieso schade?"
"Weil wir dich dann nur umdrehen und schütteln müssten.
Dann würdest du alle Träume ausspucken." Bär
Brummel schaute misstrauisch auf Giraffe Gine. "Du hast
sie wirklich nicht gefressen?"
"Nein", sagte Giraffe Gine, "ich fresse keine
Träume."
Bär
Brummel hob die Schnauze in die Luft und schnupperte.
"Träume
riechen nicht", sagte Giraffe Gine.
"Woher willst du das wissen?" fragte Bär Brummel
und nieste.
"Das weiß ich eben. Träume riechen nicht."
"Und wie sollen wir sie dann finden?"
"Wir müssen die Königin der Nacht fragen"
sagte Katze Katja, die sich unbemerkt durch das hohe Gras angeschlichen
hatte. "Die Königin der Nacht weiß, wo die Träume
sind."
"Na gut", sagte Bär Brummel, "also worauf
warten wir. Gehen wir."
"Das wäre zwecklos", sagte Katze Katja und leckte
ihre Pfoten.
"Wieso zwecklos? Du sagst, die Königin der Nacht weiß,
wo die Träume sind. Also müssen wir zur Königin
der Nacht gehen", und Bär Brummel rannte aufgeregt
vor beiden auf und ab.
"Die Königin der Nacht", meinte Katze Katja schnippisch,
"die Königin der Nacht kann man nur nachts besuchen.
Sonst wäre sie nicht Königin der Nacht, sondern Königin
des Tags."
"Aber
nachts schlafen wir doch."
"Die
Königin der Nacht schläft nachts eben nicht. Ich übrigens
auch nicht", meinte Katze Katja, "und wenn wir nicht
bald unsere Träume finden, wirst auch du, mein pelziger
Freund, nachts immer weniger schlafen und schließlich
ganz wachbleiben. Also kannst du genauso gut heute abend damit
anfangen."
"Du könntest doch allein gehen und die Königin
der Nacht bitten, uns unsere Träume zu schicken."
Bär
Brummel hatte kürzlich ein Buch gelesen: "Kompromisse
schließen". Es hatte ihn sehr beeindruckt.
"Schluss",
rief Giraffe Gine, "Entweder gehen alle oder keiner. Du
willst wieder träumen, du willst wieder schlafen, also
kommst du mit."
So
marschierten am Abend, kaum dass die Sonne untergegangen war,
Bär Brummel und Giraffe Gine hinter Katze Katja in die
Nacht.
"Wie
weit ist es?" fragte Bär Brummel leise.
"Sehr weit", gab Katze Katja Auskunft, "wo die
Nacht am tiefsten ist, dort lebt die Königin der Nacht."
Das
Kleid war ihm zu lang. Wie eine Decke fiel es den Sessel hinunter.
Seine Beine würden noch wachsen. Irgendwann würde
er in das Kleid passen. Er musste nur fleißig Träume
trinken. Er griff nach der Traumschale und nahm einen weiteren
Schluck.
Das
helle Licht beruhigte ihn. Er bräuchte noch mehr Licht.
Dass die ganze Nacht hell würde. Jetzt reichte der Lichtkegel
nur bis zum Waldrand. Das war schlecht. Auch der Wald sollte
hell sein. Gleißend hell. Dann würde er nicht bei
jedem Zweig, der knackte, zusammenzucken. Jetzt knackte es wieder.
Tiere waren im Wald. Er zog das Kleid fest um die Schultern.
Ihr Kleid.
Im
Wald hörte man das Tapsen eines großen Tieres, das
näherkahm. Seine Augen streiften den Waldrand. Eine massige,
dunkle Gestalt war zu sehen. Daneben eine lange, hohe.
Ha,
dachte der Gnom, die werden sich wundern.
"Kommt
raus", rief er böse.
Bär
Brummel rieb sich die Augen. Das Licht blendete.
"Die
Königin der Nacht lebt im Dunkeln, dachte ich", brummte
er missmutig, "bist du die Königin der Nacht?"
"Ich
bin der König der Nacht! Eine Königin der Nacht hat
nie existiert! Es gibt nur den König der Nacht. Ich beherrsche
die Nacht! Mit meinem Licht!"
"Wir
suchen die Träume", sagte Giraffe Gine. "Ich
will wieder träumen."
"Die
Träume gehören mir. Dem König der Nacht",
der Gnom trommelte mit seinen Finger auf die Lehne des Thronsessels.
"Ihr habt euch an meinem Eigentum vergriffen, als ihr träumtet.
Jetzt ist Schluss damit!" Der Gnom schlürfte einen
Traum aus der Schale. "Die Träume muss ich trinken.
Damit ich König bleibe!"
"Aber
dann träumen wir doch nicht mehr", sagte Bär
Brummel, "und dann wache ich früh am Morgen auf und
kann nicht mehr einschlafen."
"Das
ist gut", sagte der Gnom. "Ich Hasse faule Leute.
Wer träumt, ist faul."
"Aber meine Träume...", fing Bär Brummel
wieder an.
"Das
sind nicht deine Träume. Das sind meine! Du sollst arbeiten.
Verschlafene Nächte sind vertane Nächte. Wir leben
nicht in einem Freizeitpark. Also geht zurück und tut eure
Arbeit. Sofort! Bevor ich böse werde."
"Ich
bin müde", sagte Bär Brummel, "Wir sind
stundenlang durch den Wald gelaufen."
"Das ist gutes Training", der Gnom wedelte mit der
Hand, "an die Arbeit."
Bär
Brummel setzte sich und kratzte sich mit der Hinterpfote hinter
dem Ohr.
"Irgendetwas
ist da falsch. Ich weiß nicht was, aber irgendetwas stimmt
da nicht."
"Da
stimmt etwas ganz und gar nicht", sagte Giraffe Gine, "da
ist etwas oberfaul. Irgendetwas ist dunkel hier an dem Licht."
"Hinweg", kreischte der Gnom, "geht endlich.
Oder ich mache euch Beine."
Der
Gnom zog einen Zauberstab hervor. Er klopfte damit auf die Knöchel
der linken Hand.
"Wird's
bald", zischte er, "oder ich werde euch in Stinkkäfer
verwandeln! Marsch, an die Arbeit!"
Bär
Brummel schaute Giraffe Gine ratlos an. Aber Giraffe Gine sagte
nichts.
Der
Gnom rieb den Zauberstab und murmelte seltsame Worte, die Tiere
verstanden "Simsalabim" und "Sesam, verwandle
dich", aber die anderen Worte nicht.
Dann
erlosch das Licht.
"Licht",
kreischte der Gnom, "ich brauche Licht!"
Es
wurde noch dunkler.
"Licht",
kreischte der Gnom, "Ohne Licht kann ich nicht zaubern!"
"Vielleicht
solltest du gar nicht zaubern?" schlug Bär Brummel
vor.
"Unverschämter
Bär", zeterte der Gnom, "ich werde dich nicht
in einen Stinkkäfer verwandeln, sondern in eine Made. In
eine widerliche, weiße, glitschige Made!"
"Ohne
Licht kannst du nicht zaubern", erinnerte ihn Giraffe Gine.
"Und
deshalb habe ich das Licht ausgeschaltet", rief Katze Katja,
"und es bleibt aus!"
"Du
könntest den Gnom jetzt auffressen", schlug Giraffe
Gine Bär Brummel vor.
"Meinst
du, er ist bekömmlich?" fragte Bär Brummel zweifelnd.
"Unverschämtes
Pack", kreischte der Gnom, seine Stimme kam vom Waldrand,
"wagt es ja nicht, mich anzurühren." Dann hörten
sie, wie er durch den Wald keuchend davonlief.
"Wo
ist jetzt die Königin der Nacht?" fragte Bär
Brummel. "Ich will schlafen. Dafür brauche ich Träume."
"Hier.
Im Käfig. Helft mir, ihn aufzubrechen", rief Katze
Katja.
Sie
liefen ihrer Stimme nach und Bär Brummel warf sich gegen
die Gitterstäbe. Das Gitter verbog sich. Er warf sich nochmals
gegen die Stäbe. Das Gitter zerbrach. Aus dem Käfig
trat eine dunkle Gestalt.
"Wieso
habe ich solange geschlafen?" fragte sie.
"Weil
die Nacht so hell war", sagte Katze Katja und erzählte
von dem Gnom, der sich zum König der Nacht ernannt hatte.
"Und
wo ist mein Sternenkleid?"
"Auf
deinem Thron."
Die
dunkle Gestalt schritt zu dem Thron, das Kleid raschelte und
dann leuchteten lauter kleine Sterne auf dem Kleid auf.
"Ihr
habt mich gerettet", sagte die Königin der Nacht,
"Dafür habt ihr einen Wunsch frei."
"Wir
möchten wieder zu Hause sein und nicht durch die Nacht
zurücklaufen." rief Bär Brummel schnell, bevor
die anderen etwas sagen konnten.
Die
Königin der Nacht lachte leise.
Bär
Brummel wachte auf, hoch oben auf seinem Wohnbaum.
"Guten
Morgen", hörte er unten rufen.
"Guten Morgen", gähnte er, "Ich hatte einen
Traum. So einen schönen Traum."
"Ich
hatte auch einen Traum", sagte Giraffe Gine, "Katze
Katja hatte einen Traum. Alle hatten einen Traum. Wenn wir nachts
keine Träume hätten, wäre der Morgen grau und
leer"
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